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Kreuzeck und quer

„Warum tust du dir das eigentlich an?“ Die Frage durchzuckt immer wieder meine Gedanken, während ich mich langsam den Sachsenweg hinauf kämpfe. 1.400 Höhenmeter. Zehn Kilogramm auf dem Rücken. Die Sonne brennt mit 24 Grad Celsius erbarmungslos auf mich herab. Scheinbar kein Lüftchen regt sich, dafür zieht sich jeder Schritt und der Schweiß rinnt mir über die Stirn in die Augen und erzeugt dort ein unangenehmes Brennen. Überhaupt scheint mein ganzer Körper von innen heraus zu glühen. Meine Trinkflaschen leeren sich beunruhigend schnell.

„Hättest du nicht besser die Kreuzeck Standseilbahn genommen, mit der du dir ganz easy 600 Höhenmeter gespart hättest.“ höhnt der innere Zweifler. „Ja, hätte ich, nur wollte ich hier eine Bergwanderung machen und keine Kaffeefahrt.“ kläfft der Sportler in mir zurück. Doch die Verlockung der Bequemlichkeit scheint in diesem Moment so weit entfernt wie die Berghütte, die ganz am Ende der ersten Tagesetappe mit einem kühlen Bier auf mich wartet.

Ich weiß, warum ich das tue. Da ist diese Anstrengung, das schiere Gefühl der Lebendigkeit, die sich erst einstellt, wenn der Körper an seine Grenzen kommt. Und es ist auch die Befreiung von den Zwängen des Alltags, von den Geräuschen der Zivilisation, die mich im Tal noch begleiten: der Verkehrslärm, Hundegebell, das vereinzelt wahrnehmbare Klappern, Sägen, Hämmern und Bohren. Geräusche, die allmählich leiser werden, je höher ich steige. Irgendwann höre ich nur noch meinen eigenen Atem und das leise Knirschen des steinigen Untergrunds unter meinen Bergstiefeln.

Mit dem Lärm beginnt auch die Zivilisation hinter mir zu verschwinden. Die Forststraße, in die der Weg ab und an noch übergeht, und die einsamen Almen, an denen ich vorbei komme, sind die letzten Marksteine einer alpinen Kulturlandschaft, die schon bald hinter mir liegt. Der Bergwald ist hier an vielen Stellen deutlich ausgelichtet – ein unübersehbares Zeichen der vielen viel zu trockenen Jahre, die nicht nur diese Region seit 2010 heimgesucht haben. Umso ungehinderter brennt jetzt die Sonne auf mich herab.

Und dann, nach gut drei Stunden unermüdlichen Aufstiegs, erreiche ich die Baumgrenze. Der Weg flacht ab, verläuft nun mehr und mehr parallel zu den Höhenlinien, anstatt sie in steilem Winkel zu durchschneiden wie zuvor. Eine Welle der Erleichterung durchströmt mich. Die körperliche Qual liegt hinter mir, und ich kann die Ruhe und die unberührte Schönheit der Natur um mich herum genießen.

Eher unscheinbare Schilder weisen auf den Beginn der Kreuzeck-Durchquerung hin.

Mein Ziel heute: die Salzkofel-Hütte, die sich auf knapp 2.000 Metern Höhe befindet. Gestern Abend bin ich mit dem Zug nach Salzburg gereist, habe dort in einem Hostel übernachtet, bevor ich heute Morgen um 8:10 Uhr vom Salzburger Hauptbahnhof aufbrach. Über Bad Gastein und den Tauerntunnel den Alpenhauptkamm durchquerend, erreichte ich Spittal an der Drau. Dort stieg ich in die S1 um, die mich in Richtung Lienz brachte. An der Station Sachsenburg-Möllbrücke, am Beginn des Drautals, startete schließlich mein heutiges Abenteuer.

Der Kreuzeck-Höhenweg ist etwas ganz Besonderes – ein echter Geheimtipp für Freunde von Hüttentouren, des Wanderns von Berghütte zu Berghütte. Diese Berggruppe zählt zu den Hohen Tauern, doch erwartet hier niemand spektakuläre Klettersteige oder imposante Gletscherblicke. Stattdessen lockt der Weg mit einer abwechslungsreichen, oft rauen Landschaft, einer reizarmen Umgebung und wenigen kleinen, dafür aber umso authentischeren Berghütten, die allesamt auf 2.000 Metern und darüber liegen und nur zu Fuß erreichbar sind.

So führt mich mein Weg weiter in Richtung Salzkofelhütte. Ich mag diesen Abschnitt, nicht nur wegen der wiedererlangten Leichtigkeit nach dem anstrengenden Aufstieg, sondern auch wegen der romantisch anmutenden Lage knapp oberhalb des Bergwaldes. Die Luft ist klar, und die sich immer wieder bietenden Ausblicke hinunter ins Tal sind atemberaubend. Unterhalb einer großen Alm entdecke ich einen perfekten Ort für eine kleine Rast, etwas abseits des Weges.

Der Blick ins Tal: Vorne schlängelt sich die Drau, im Hintergrund liegt Spittal.

Ich setze mich ins weiche Gras, öffne meinen Rucksack und hole die mitgebrachten Snacks hervor: knusprige Brotchips, rauchig-würzige Dauerwurst und eine Mischung aus Nüssen und getrockneten Früchten. Einfach, aber genau das Richtige für diesen Moment. Die Natur um mich herum ist still, nur das leise Rauschen des Windes im Gras begleitet meine Pause. Es sind diese einfachen Freuden, die das Leben auf den Bergen so besonders machen.

Unterhalb einer Alm suche ich mir ein ruhiges Plätzchen für eine kleine Rast.

Nur wenige Wanderer machen sich auf diesen Weg. Die, die es tun, wissen dessen Einsamkeit zu schätzen. Abends, nach anstrengenden Etappen, kommen sie in den einfachen, urigen Hütten zusammen, um die Erlebnisse des Tages Revue passieren zu lassen, sich mit anderen Wanderern auszutauschen, gemeinsam zu essen, zu trinken, zu spielen und zu lachen. Hier, fernab der Zivilisation, scheint die Last des Alltags von den Schultern zu fallen. Es ist, als würde die Höhe nicht nur die Sorgen, sondern auch die Mauern zwischen den Menschen schmelzen lassen. Gespräche, die unten im Tal undenkbar wären, entwickeln sich ganz natürlich, fast zwanglos. Die Hütte wird zum Ort der Unbeschwertheit, an dem der wahre Kern des Menschseins aufblitzt.

Weiter geht es auf einem sanften Anstieg, der mich zur Salzkofelhütte führen wird, die auf knapp 2.000 Metern liegt. Doch bevor ich mein Ziel erreiche, erlebe ich noch das Highlight des heutigen Tages: Kurz vor der Hütte kreuzt ein kleiner Gebirgsbach meinen Weg, der aus der Höhe herab fließt. Ohne lange zu überlegen, entledige ich mich meiner verschwitzten Kleidung und lasse mich in eine der klaren, kalten Gumpen sinken. Die Kühle des Wassers durchdringt meinen Körper, wäscht die Müdigkeit und den Schweiß des Tages fort. Es ist ein Moment purer Erfrischung, der den Tag perfekt abrundet.

Nach dem Bad ziehe ich frische Kleidung an und wasche meine durchgeschwitzten Sachen aus, um sie später auf der Hütte zum Trocknen aufzuhängen. Nur eine halbe Stunde trennt mich noch von meinem Ziel, und mit leichten Schritten setze ich meinen Weg fort. Der Weg wird flacher, und dann erblicke ich endlich die Salzkofelhütte ganz in der Nähe. Als ich ankomme, werde ich herzlich empfangen. Barbara und Helmut, die beiden Wirtsleute, betreiben die Hütte seit einigen Jahren. Es ist sofort spürbar, dass ihnen diese Aufgabe Freude bereitet und dass sie ihre Gäste mit offenen Armen empfangen. Ihre Herzlichkeit und die Wärme der Hütte machen das Ankommen zu einem ganz besonderen Moment.

Die Salzkofelhütte ist nicht zuletzt dank seiner Wirte Barbara und Helmut etwas ganz Besonderes.

Mit einem kühlen Bier setze ich mich auf die Terrasse der Salzkofelhütte. Die Sonne neigt sich langsam dem Horizont zu, taucht die umliegenden Gipfel in ein sanftes, goldenes Licht. Um mich herum breitet sich eine friedliche Ruhe aus. Später sitze ich mit den anderen Wanderern zusammen, die auch an diesem Tag auf die Hütte gekommen sind. Wir tauschen Geschichten aus, lachen und genießen das einfache, aber köstliche Essen. In diesen Momenten merke ich, dass die Hütte mehr als nur ein Ort zum Schlafen ist – sie ist ein Ort der Begegnung und des Austauschs, ein Ort, an dem Fremde zu Freunden werden. Ich lege mich ins Bett und denke darüber nach, was mich morgen erwartet. Der nächste Abschnitt des Kreuzeck Höhenwegs soll lang sein, aber auch unglaublich schön.

Das „Kraftplatzl“ oberhalb der Hüttenterrasse

Am nächsten Morgen breche ich bereits um 7 Uhr auf, um den Hausberg der Salzkofelhütte, den nahegelegenen Salzkofel, zu erklimmen. Der Himmel ist strahlend blau. Gottlob liegt der Weg, der die knapp 500 Höhenmeter auf den Gipfel überwindet, anfangs im Schatten. Mein schwerer Rucksack kann zunächst auf der Hütte bleiben, und ohne diese Last fühlt sich der Aufstieg fast mühelos an. Nach gut einer Stunde stehe ich auf dem Gipfel und lasse den Blick über die imposante Berglandschaft schweifen. Im Nordwesten glitzern die Gletscher des Großglockners in der Ferne, und im Süden zeichnen sich die rötlich schimmernden Lienzer Dolomiten ab – ein Anblick, der den frühen Aufstieg mehr als belohnt.

Auf dem Salzkofel (2.498 Meter)

Auf dem Rückweg treffe ich auf die Frau mit dem Gipsarm, die ich am Abend zuvor bereits auf der Salzkofelhütte bemerkt hatte. Sie ist mit ihren vier Söhnen, die zwischen sechs und zwölf Jahre alt sind, sowie einer Freundin unterwegs. Heute früh begleitet sie nur ihren ältesten Sohn, während die anderen bereits in Richtung Feldnerhütte aufgebrochen sind. Zurück auf der Salzkofelhütte, nach genau zwei Stunden, schnappe ich mir meinen Rucksack und verabschiede mich herzlich von Barbara und Helmut.

Die Feldnerhütte ist auch mein nächstes Ziel, doch der Weg dorthin ist noch weit. Die heutige Etappe, der Heinrich-Hecht-Weg, führt mich als erstes zur Goldgrubenscharte auf 2.450 Metern. Der Anstieg ist durchgehend der Morgensonne ausgesetzt, und ich spüre bereits jetzt die Hitze des Tages, die mich begleiten wird. Kurz vor der Scharte entdecke ich am Wegrand Saskia und Dietmar, die ich bereits auf der Salzkofelhütte kennengelernt hatte. Sie sitzen auf den warmen Steinen, genießen die Stille und erholen sich von den Strapazen des steilen Anstiegs. Ihr Angebot, eine Pause bei ihnen einzulegen und ihr Essen zu teilen, lehne ich dankend ab. Zwar schätze ich die Geselligkeit, aber heute liegt noch ein weiter Weg vor mir, und neben dem Genuss treibt mich auch der sportliche Aspekt an. Ich möchte weiter, die Etappe fordert ihren Tribut, und die brennende Sonne lässt keine Zeit für lange Pausen.

Blick zurück von der Goldgrubenscharte

Später erfahre ich, dass Saskia und Dietmar gar kein Paar sind, sondern sie „nur“ eine Wanderfreundschaft verbindet. Er kommt aus München, sie aus dem Ruhrgebiet. Kennengelernt haben sie sich einst über ein Onlineportal für Wanderfreunde, und seitdem hält ihre Freundschaft an. Immer wieder verabreden sie sich zu gemeinsamen Touren, und diese Verbindung scheint über die Jahre gewachsen zu sein, getragen von ihrer gemeinsamen Leidenschaft für die Berge.

Der heutige Weg ist tatsächlich anspruchsvoll, und die Sonne steht den ganzen Tag gnadenlos am Himmel. Gegen Mittag kommt ein frischer, zeitweise sogar fast unangenehm böiger Wind auf und einige Wolken ziehen vorüber. Vielleicht sind dies die ersten Anzeichen für den Wetterwechsel, der für die nächsten Tage angekündigt ist. Der Heinrich-Hecht-Weg, vermutlich benannt nach seinem Erfinder, führt mich fast durchgehend über die Südhänge der Berge. Ob dies wohl daran liegt, dass die Südhänge früher schneefrei sind oder ob Heinrich Hecht einfach ein Sonnenliebhaber war? Fakt ist, Schatten ist heute Mangelware, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Essenspause in praller Sonne, an einen Felsen gelehnt, einzulegen.

Typisch für den Heinrich-Hecht-Weg sind seine kargen, aber durchweg sonnenverwöhnten Berghänge.

Am frühen Nachmittag komme ich an einer abgelegenen Alm vorbei, die dank EU-Fördermitteln bewirtschaftet wird. Ohne diese Unterstützung würde sich wohl niemand finden, der die entbehrungsreiche Arbeit auf sich nehmen würde. Als ich passiere, streut die Bäuerin gerade Salz für die Kühe auf große Steine. Ich bleibe kurz stehen und wir wechseln ein paar Worte, doch die Verständigung ist schwierig. Ihr Kärntner Dialekt ist stark, und so bleibt es bei ein paar freundlichen Gesten. Wir wünschen uns gegenseitig einen schönen Tag, und ich setze meinen Weg fort.

Schon lange ist die Feldnerhütte am Horizont sichtbar, anfangs noch ganz klein in der Ferne. Doch die letzte Stunde des Weges zieht sich scheinbar endlos hin, jeder Schritt kostet Kraft, die Müdigkeit wird stärker. Schließlich, nach einem langen Tag, erreiche ich am Nachmittag die Hütte. Die Erleichterung, endlich am Ziel zu sein, mischt sich mit der Freude auf ein erfrischendes Bad im Glanzsee, der sich direkt hinter der Hütte befindet. Ich tauche in das eiskalte Wasser ein und spüre, wie die Kühle meinen Körper vom Schweiß und der Anstrengung des Tages befreit. Es ist ein wohltuendes Gefühl. Nach dem Bad wasche ich meine Kleidung aus und hänge sie zum Trocknen hinter der Hütte auf, wo die Sonne noch warm scheint und immer ein wenig Durchzug herrscht.

Endlich angekommen an der Feldnerhütte

Der Hüttenwirt, Bruno, seit über 20 Jahren auf der Feldnerhütte, ist ein echtes Original. Seine Berliner Herkunft erkennt man sofort an seiner unverblümten „Berliner Schnauze“, die er auch hier in den Alpen nicht abgelegt hat. An diesem Abend stehen zwei Gerichte zur Auswahl: Rindergulasch und Kärntner Nudeln mit Krautsalat, eine regionale Spezialität. Nachdem sich fast alle auf der Terrasse für die Nudeln entschieden haben, kommt Bruno heraus, setzt sich zu uns und verkündet mit einem verschmitzten Grinsen: „Also, wenn jetzt noch eena die Kärntner Nudeln bestellt, krieg ick in der Küche ’n Problem, wa?“

Das Gespräch dreht sich schnell um das Thema Vegetarismus. Bruno erzählt, dass nach der Hauptsaison, wenn nur noch Einheimische auf die Hütte kämen, die Nachfrage nach vegetarischen Gerichten deutlich zurückgehe. Überhaupt sei es für ihn schwierig, vegetarisch zu kochen, weil frisches Gemüse nur mühsam aus dem Tal auf die Hütte gebracht werden könne. Seine Hütte verfügt weder über eine Zufahrtsstraße noch über einen Lastenaufzug. Ich schlage vor, dass er auch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen könnte, die nicht unbedingt frisches Gemüse erfordern. Doch Bruno winkt ab – man merkt, dass er als Koch einen hohen Anspruch an sich selbst hat und seinen Gästen das Beste bieten möchte.

Dann kommt das Thema auf die Stromversorgung der Hütte. Bruno erklärt, dass das Wasserkraftwerk, das normalerweise die Hütte mit Strom versorgt, aufgrund der langen Trockenheit kaum noch verlässlich arbeitet. Aktuell muss er die Hütte mit einem Dieselgenerator betreiben, was nicht nur teuer ist, sondern auch den kräftezehrenden Treibstofftransport aus dem Tal erfordert. Er denkt ernsthaft darüber nach, Fotovoltaikmodule zu installieren, um unabhängiger von den Wetterbedingungen zu werden, insbesondere in Kombination mit dem wassergetriebenen Generator.

Ironischerweise besteht nach übereinstimmenden und neuesten Erkenntnissen der meisten Klimaforscher ein Zusammenhang zwischen dem massenhaften Fleischkonsum der Menschen und den Veränderungen des Erdklimas, dessen Folgen Bruno hier auf seiner Hütte doch unmittelbar zu spüren bekommt. Ob er diese nicht sehen kann oder nicht sehen möchte? Die Frage muss offen bleiben, denn ich habe mich nicht getraut, ihn direkt danach zu fragen. Auch weil ich fürchtete, ihm damit die Laune zu verderben. Zumal er während des Gesprächs angemerkt hatte, dass es „richtje militante Vegetarier“ gebe.

Bruno wirkt auf mich wie ein liebenswerter Brummbär. Er schimpft viel, aber man merkt, dass er sich viele Gedanken macht und mit Leidenschaft dabei ist. Die Zukunft der Alpenvereinshütten in ihrer jetzigen Form sieht er als gefährdet an. „Es jeht keener mehr ran, der det noch machen will.“, sagt er nachdenklich. Er selbst sei nur Hüttenwirt, weil es ihm Spaß mache. Obwohl er skeptisch klingt, glaube ich ihm dennoch – seine Leidenschaft und Sorge um die Hütte sind deutlich spürbar.

Der Glanzsee direkt hinter der Feldnerhütte speist auch das Wasserkraftwerk.

Diesen Abend verbringe ich mit Saskia, Dietmar und Nick am Tisch in der gemütlichen Stube der Feldnerhütte. Wir greifen zu „Mensch ärgere dich nicht“ und Uno – Spiele, die man im normalen Alltag kaum noch spielt. Doch hier in den Bergen, fernab der Ablenkungen des täglichen Lebens, bekommen die einfachen Dinge einen ganz anderen Stellenwert. Es tut gut, sich auf solche simplen Freuden zu besinnen.

Nick, mit seinen 25 Jahren bereits Friseurmeister, ist ein lebenslustiger Typ. Beim Spielen blüht er förmlich auf, und seine fröhliche Art steckt die ganze Gruppe an. Er ist auch der sportlichste Wanderer des bunt zusammengewürfelten Trüppchens, das sich in dieser Woche von der Salzkofelhütte auf den Weg zum Anna Schutzhaus gemacht hat. Seine Energie und Ausdauer sind beeindruckend, und er ist immer vorne mit dabei, egal wie anspruchsvoll die Etappe ist.

Das Lachen und die lockere Stimmung lassen die Anstrengungen des Tages schnell vergessen. Vergnügt lassen wir den Tag bereits um 20 Uhr ausklingen. Anderntags möchte ich um 5.30 Uhr frühstücken und um 6 Uhr aufbrechen, weil für den Nachmittag Schauer und Gewitter angekündigt sind. Als ich mich später auf meinen Schlafplatz zurückziehe und ein letztes Mal aus dem Fenster blicke, sehe ich, wie sich die umliegenden Gipfel sanft gegen den roten und rasch dunkler werdenden Abendhimmel abheben. Es ist einer dieser seltenen Momente, in denen die Zeit stillsteht – ein Augenblick, der mir in seiner Schlichtheit und gleichzeitig Tiefe so unendlich kostbar erscheint.

Die dritte Etappe ist die anstrengendste und zugleich schönste des Kreuzeck-Höhenwegs. Landschaftlich abwechslungsreich, mit zwei Gipfeln, der Umrundung von Vierzehn Seen und einer langen, anspruchsvollen Gratüberschreitung, sowie einer kleinen Überraschung bietet sie fast alles, was das Herz eines alpinen Wanderers höher schlagen lässt.

Als ich wie jeden Morgen den Wecker meines Smartphones klingeln höre und nach dem Gerät greife, traue ich meinen Augen kaum: 5.33 Uhr. Wie kann das sein? Ich hatte doch 5.10 Uhr eingestellt! Oh nein, ich hatte die Ohrenstöpsel drin und den Alarm nicht gehört. Mein Handy hat also die ganze Zeit gebimmelt und womöglich alle anderen im Schlaflager geweckt. Wie peinlich! Beschämt ziehe ich mich schnell an, mache eine Katzenwäsche und begebe mich in die Gaststube, wo Bruno bereits mit dem Frühstück und einem Riesenpott Pfefferminztee auf mich wartet. Auch Nick sitzt schon am Tisch, bereit für den Tag. Noch finde ich nicht viele Worte – der Tag ist einfach noch zu jung.

Um 6.15 Uhr brechen wir schließlich auf zu unserem ersten großen Ziel: dem Kreuzeck, mit rund 2.700 Metern einer der höchsten Gipfel der gleichnamigen Gebirgs-Gruppe. Beim Glenktörl lassen wir unsere Rucksäcke stehen und klettern leichteren Schrittes die letzten 250 Höhenmeter hinauf. Oben angekommen, eröffnet sich uns ein atemberaubender Blick über die Nord- und Südalpen. So früh am Morgen auf einem Berggipfel zu stehen, hat etwas ganz Besonderes. Über den Nordalpen zeichnet sich eine Wolkenfront ab – die Vorboten des angekündigten Wetterwechsels. Wir sehen, dass das Hochdruckgebiet, in dem wir uns befinden, dagegen hält. Doch wie lange noch?

Früher Aufbruch von der Feldnerhütte
Kreuzeck-Gipfelkreuz (2.701 Meter)

Zurück am Glenktörl treffen wir auf die vier Jungs, die mit ihrer Mutter und der Freundin etwas später nach uns gestartet sind. Sie wollen auch noch hinauf aufs Kreuzeck. Ich lasse Nick ziehen – er ist deutlich schneller unterwegs als ich. Kaum habe ich das Glenktörl hinter mir gelassen, versperrt ein großer Fels den Weg. Nur ein schmaler Spalt gewährt den Durchlass für den weiteren Weg. Direkt danach erwartet mich die einzige Kletterstelle der gesamten Tour, sogar mit Seilversicherung. Eine kurze, aber willkommene Abwechslung zur sonst technisch wenig anspruchsvollen Wegführung.

Nach der Umrundung der malerischen vierzehn Seen erreiche ich das Kirschentörl auf 2.400 Metern. Und hier wartet eine besondere Überraschung: Ein Briefkasten der österreichischen Post, der während der Sommermonate täglich geleert wird – angeblich der am höchsten gelegene Briefkasten Österreichs! Ein echter Marketinggag, denke ich schmunzelnd, während ich mich niederlasse und aus meinen Vorräten neue Energie für den zweiten Gipfel des Tages tanke: das Hochkreuz.

Teil der Vierzehn Seen

Erst zuhause erfahre ich durch Recherchen im Internet, dass der Postkasten gar nicht durch die österreichische Post aufgestellt wurde, sondern auf eine „Schnapsidee“ eines pensionierten Bahnbediensteten zurück geht. Über einen Freund besorgte dieser sich einen ausrangierten Postkasten und stellte ihn kurzerhand am Kirschentörl auf. Dort steht er nun und wird anscheinend wirklich täglich von seinem Ersteller geleert. Ich finde, für dieses kostenfreie Marketing hat er sich mindestens die Verleihung eines Ehrentitels durch die Post verdient.

Der Postkasten am Kirchentörl (2.400 Meter)

Der weitere Aufstieg zieht sich hin und scheint kein Ende nehmen zu wollen. Zum Glück habe ich wieder ausreichend Wasser dabei, denn die Sonne lässt mich auch heute gehörig schwitzen. Doch ich versuche, das Positive zu sehen: Trotz der angekündigten Wetteränderung hält sich das Hochdruckgebiet stabil. Oben auf dem Hochkreuz angekommen, eröffnet sich mir erneut ein gigantischer Blick über die Alpen. Ein Gefühl von Glück und Erhabenheit durchströmt mich. Wie schön sind doch die Berge! Wie schön ist dieser Planet, diese Erde! Warum gehen wir Menschen nur so grausam damit um? Dabei wäre es so einfach: Wenn jeder Mensch zufrieden wäre mit dem wenigen, das er wirklich zum Leben benötigt, würden viel weniger Ressourcen verbraucht und das Klima geschont. In den Bergen, fernab von Überfluss und Konsum, wird mir einmal mehr bewusst, wie wenig es eigentlich braucht, um glücklich zu sein. Die Stille, die klare Luft, die Weite der Landschaft – das alles ist unbezahlbar. Und doch nehmen wir es als selbstverständlich hin, bis es vielleicht eines Tages nicht mehr da ist.

Das Hochkreuz ist mit 2.709 Metern der höchste Gipfel der ganzen Tour.

Auch wenn die meisten Höhenmeter nun geschafft sind, hat es der letzte Abschnitt der heutigen Etappe in sich. Der Weg setzt sich als Gratwanderung entlang der Schwarzwände fort, windet sich mäandernd mal höher, mal tiefer, immer wieder mit Seitenwechseln, die kleinere Aufstiege und Abstiege mit sich bringen. Dieser Weg ist wunderschön, mit atemberaubenden Ausblicken auf die umliegenden Bergketten und schwindelerregenden Tiefblicken direkt neben dem schmalen Pfad. Jeder Fehltritt könnte hier fatale Folgen haben. Jetzt ist besondere Konzentration und Durchhaltevermögen gefragt.

Gratwanderung entlang der Schwarzwände

Irgendwann ist es endlich geschafft, und die Hugo-Gerbers-Hütte kommt in Sichtweite. Nick ist bereits dort und hat es sich bequem gemacht – ansonsten ist noch niemand eingetroffen. Glücklich über die gemeisterte Etappe stoßen wir mit einem kühlen Bier auf den Tag und unser Wohl an. Aus der anderen Richtung nähert sich eine ältere Frau, die allein unterwegs ist. Sie kommt vom Anna Schutzhaus, dem Ziel unserer letzten Etappe, und erreicht die Hütte nur kurz nach uns. Sie ist es auch, die als Erste die „Dusche“ in Beschlag nimmt.

Die „Dusche“ der Hugo-Gerbers-Hütte

Dusche? Nun, nicht im klassischen Sinne. Die Gerbers-Hütte verfügt über kein fließendes Wasser. Etwa fünf Gehminuten entfernt, hinter einem Felsblock, ist ein behelfsmäßiges Holzgestell aufgebaut, durch das ein Wasserschlauch eiskaltes Wasser aus einem Gebirgsbach leitet. Auch ich nutze die Gelegenheit, mich vom Körperschweiß dieser Etappe zu befreien. Brrr, das Wasser ist eiskalt, aber gleichzeitig wunderbar erfrischend.

Die Gerbers-Hütte hat keinen festen Hüttenwirt, sondern wird wochenweise von wechselnden Teams von Freiwilligen bewirtschaftet. Heute werden wir von drei jungen Leuten bewirtet, die sich liebevoll um uns kümmern. Es gibt eine Eierschwammerlsuppe – auf Deutsch: Rahmsuppe mit Pfifferlingen – als Vorspeise. Der Hauptgang besteht aus gebratenen Klößen mit Eiern, und als Nachspeise gibt es Vanillepudding. Alles ist unglaublich lecker, besonders nach einer so anstrengenden Wanderung.

Hugo-Gerbers-Hütte (2.347 Meter)

Am Abend unterhalte ich mich mit der Frau, die kurz nach uns an der Hütte eingetroffen ist. Sie erzählt mir, dass sie bereits in Rente ist und, genau wie ich, gerne alleine unterwegs ist. Jeden Sommer nimmt sie sich vier Wochen Zeit, um sich eine Auszeit in der Natur zu gönnen. Zwei Wochen verbringt sie in den Alpen und anschließend zwei Wochen in Ligurien, wo sie das milde Klima und die Küste genießt.

Im Gespräch erwähnt sie, dass sie keine Kinder hat und dies im Nachhinein ein wenig bedauert. Es macht sie nicht traurig, aber ein Teil von ihr ärgert sich darüber, dass sie es so lange aufgeschoben hat, bis es schließlich zu spät war. Dennoch, so sagt sie, ist sie zufrieden mit ihrem Leben. Wie schön, dass sie es so sehen kann! Ihre Gelassenheit und Zufriedenheit mit dem, was ist, beeindruckt mich. Es ist ein stiller Moment der Reflexion über verpasste Chancen und die Kunst, das Leben dennoch anzunehmen, wie es gekommen ist.

Auch wenn das Wetter heute noch gehalten hat, spüren wir deutlich, dass der Wechsel unmittelbar bevorsteht. Der Abendhimmel ist zeitweise stark bedeckt, und Wolkenformationen kündigen Regen an. Am nächsten Morgen, es ist wieder 6 Uhr, treten wir mit gepackten Rucksäcken vor die Hütte und entdecken, dass es in der Nacht wirklich geregnet hat. Die umliegenden Gipfel sind teilweise in Nebel gehüllt. Im letzten Moment sehe ich noch die Frau, die bereits ins Tal absteigt. Sie hatte am Vorabend lange überlegt, ob sie die Etappe bis zum Hochkreuz fortsetzt oder nicht. Das Wetter hat ihr die Entscheidung abgenommen.

Am nächsten Morgen umhüllen Wolken die umliegenden Gipfel.

Heute nimmt Nick einen der vier Jungs, den ältesten, mit auf die letzte Etappe. Die beiden Bergfexe verschwinden schnell im Morgendunst. Auch ich mache mich auf den Weg. Heute benötige ich keinen Sonnenschutz, und die kühlen Temperaturen ermöglichen mir ein schnelleres Gehen als an den Vortagen. Schon bald fallen mir viele schwarze Bergsalamander auf, die sich auf dem Weg tummeln – offenbar hat der Regen sie aus ihren Verstecken hervorgelockt.

Bald merke ich jedoch, dass die Nässe auch ihre Nachteile hat: Der Weg führt heute über viele grasbewachsene Berghänge, die durch die Feuchtigkeit rutschig geworden sind. Besondere Vorsicht ist nun gefragt. Der Weg windet sich über mehrere Scharten und kleinere Gipfel, bevor er hinab zum Wildsee führt. Dort herrscht eine fast mystische Stimmung, die durch den Nebel verstärkt wird. Doch lange halte ich mich nicht auf – es ist zu kühl, um stehenzubleiben.

Weiter geht es entlang des westlichsten Ausläufers der Kreuzeck-Gruppe in einem Auf und Ab über zahlreiche kleinere Gipfel bis zum Ederplan, von wo man an klaren Tagen einen herrlichen Blick auf Lienz, die Hauptstadt Osttirols, hat. Durch eine Wolkenlücke am Zietenkopf erhasche ich einen kurzen Blick auf Lienz – wie schön! Zugleich breitet sich ein leises Gefühl der Trauer in mir aus. Der Blick auf Lienz erinnert mich daran, dass die Rückkehr in die Zivilisation bevorsteht. Von mir aus könnte die Wanderung noch ein paar Tage weitergehen.

Immer wieder mystische Stimmungen: Hier mit Blick auf den Zietenkopf im Hintergrund.

Bisher hält das Wetter – zumindest regnet es nicht. Immer wieder öffnen sich durch Wolkenlücken schöne Blicke auf die umliegenden Berge und Täler, und ich versuche, jeden dieser Momente bewusst zu genießen. Je näher ich dem Anna Schutzhaus komme, desto breiter und ausgetretener wird der Weg – ein deutliches Zeichen dafür, dass hier bei schönem Wetter viele Tagestouristen unterwegs sind. Doch heute scheint die Bergwelt fast menschenleer. Bis auf zwei junge Frauen, die ich auf dem Zietenkopf traf, begegnet mir niemand.

Durch eine Wolkenlücke erhasche ich vom Zietenkopf einen Blick auf Lienz, die Hauptstadt Osttirols.

Kurz vor Mittag erreiche ich schließlich die Hütte. Auch hier herrscht Stille, abgesehen von zwei Hunden, die gelangweilt vor sich hin dösen. Als ich den Gastraum betrete, habe ich kurz das Gefühl, in eine Sauna zu kommen – der Kachelofen ist in Betrieb und strahlt eine wohlige Wärme aus, die einen starken Kontrast zur kühlen, nebligen Außenwelt bildet. Es ist ein Moment der Rückkehr in die Geborgenheit, aber auch der Abschied von der stillen Einsamkeit der Berge.

Der Empfang in der Hütte ist herzlich, und ich freue mich über ein kühles Weizenbier und ein großzügiges „Knödeltrio“, das heutige Tagesgericht. Spinatknödel, Rote-Bete-Knödel und Kasknödel auf einem Teller, übergossen mit einer deftigen Fettsoße – das schmeckt mir richtig gut. Bald erscheinen auch die beiden Bergfexe, die bereits eine Stunde vor mir auf der Hütte angekommen waren und sich inzwischen auf dem Zimmer ausgeruht hatten. Wir tauschen uns kurz über die heutige Wanderung aus, bevor ich eine kalte Dusche nehme und mich in frische Klamotten werfe.

Zurück in der Gaststube spielen wir eine Runde „Schnapsen“, ein Kartenspiel, das vor allem in Österreich beliebt ist. Ich lasse mir die Regeln erklären und spiele ein paar Runden mit, doch so richtig verstanden habe ich das Spiel noch nicht, besonders einige Details der Regeln bleiben mir ein Rätsel. Bei nächster Gelegenheit werde ich einen zweiten Anlauf starten müssen.

Lange sind wir die einzigen Gäste, und ich bin überzeugt, dass bis auf die acht bis zehn Leute, die mich in den letzten Tagen begleitet haben, heute niemand mehr kommen wird. Doch mein Eindruck täuscht. Nach und nach trudeln immer mehr Tagesgäste ein, und bis zum späten Nachmittag sind im Gastraum alle Tische besetzt. Von den anderen, die noch unterwegs sein müssten, fehlt jedoch jede Spur, und ein Blick aus dem Fenster lässt nichts Gutes erahnen – dunkle Wolken ziehen auf, und es scheint, als könnte es bald regnen, wenn nicht sogar ein Gewitter aufziehen.

Langsam beginnen wir uns zu sorgen, wo die anderen bleiben und ob sie es wohl rechtzeitig vor dem Unwetter zur Hütte schaffen. Die Anspannung steigt, während die ersten Tropfen gegen die Fensterscheiben schlagen. Hoffentlich kommen sie bald an – sicher und trocken.

Endlich kommen die drei jüngeren Brüder an. Sie sind in Sicherheit, und ein Stein fällt uns vom Herzen. Draußen zucken die ersten Blitze am Himmel, und die Situation wird zunehmend bedrohlicher. Die anderen Erwachsenen sind ja noch immer unterwegs. Der Regen setzt jetzt richtig ein, und ein Gewitter entlädt sich in der Nähe. Hoffentlich passiert ihnen nichts.

Minuten vergehen, in denen die Anspannung spürbar in der Luft liegt. Doch nach und nach trudeln die restlichen Wanderer ein, durchnässt, aber glücklich. Große Erleichterung breitet sich auf allen Gesichtern aus – wir sind alle wieder beisammen, und niemandem ist etwas passiert. Das Gewitter tobt draußen weiter, doch hier drinnen sind wir in Sicherheit, und das Wissen, dass wir diesen Tag gemeistert haben, bringt eine tiefe Verbundenheit mit sich.

Spielend, lachend, uns unterhaltend, essend und trinkend feiern wir den Tag und lassen die Tour gemeinsam ausklingen. Viele Stunden sitzen wir noch beisammen, genießen die Wärme der Gemeinschaft und die unbeschwerte Lebensfreude, die den Raum erfüllt.

Der Abendhimmel über Lienz nach dem Gewitter

Erst als ich am nächsten Tag im Zug nach Hause sitze, wird mir klar, wie sehr wir in diesen Tagen zusammengewachsen sind – fast ohne es zu bemerken. Was als Einzeltour in der Einsamkeit der Berge begann, endete in einer Verbundenheit, die uns alle auf dieser Reise miteinander verknüpfte. Es ist diese stille, unsichtbare Verbindung, die auch lange nach der Wanderung noch nachklingen wird.

Als der Zug in Karlstadt einfährt, muss ich aussteigen und ich schultere meinen Rucksack – das letzte Mal auf dieser Tour, wie mir in diesem Moment bewusst wird. Ein leises Gefühl von Abschied mischt sich mit einem tiefen Gefühl von Glück und Zufriedenheit über das Erlebte. Ich atme tief ein und lasse den Moment auf mich wirken, wissend, dass mit meinen letzten Schritten nach Hause etwas ganz Besonderes zu Ende geht.

[Abgesagt] 50 Täler, 50 Gipfel

Edit vom 13.3.2021: Die geplante Alpenüberquerung verschiebe ich aus diversen Gründen um ein paar Jahre.

Eine Pilgerreise als Parabel für das Leben selbst. Das gefällt mir sehr gut. So kam ich neulich darauf, warum nicht mein 50. Geburtstag im kommenden Jahr der Anlass für eine Alpenüberquerung zu Fuß sein könnte. Noch erlaubt mir das meine Gesundheit. Und die Berge sind ja seit jeher mein Sehnsuchtsort. In den letzten Jahren habe ich Hüttentouren, also das Gehen von Berghütte zu Berghütte, für mich entdeckt.

So fand ich nach kurzer Recherche das Buch von Christof Herrmann: „Alpenüberquerung Salzburg–Triest“. Christof ist Oberfranke, Veganer, lebt einen minimalistischen Lebensstil und schreibt Bücher über seine Touren. Er betreibt auch einen Blog: einfachbewusst.de/ Die Route quer durch die Ostalpen hat er nach eigenen Angaben selber ausgearbeitet und das glaube ich ihm. Sein Wanderführer, der inzwischen in der dritten Auflage erschienen ist, macht jedenfalls einen detaillierten und sehr zuverlässigen Eindruck. So bin ich, nach Rücksprache mit meiner Familie, fest entschlossen im Jahr 2021, aus Anlass meines 50. Geburtstags, die Alpenüberquerung zu wagen.

Und zwar werde ich die Tour in einem Stück gehen, aber leicht verkürzt. Denn die eigentliche Alpenüberquerung fängt erst in Berchtesgaden an und hört bereits in Tolmin auf. Christof hängt seiner Tour noch 5 Tage an, um bis ans Meer zu gelangen. Das wiederum reizt mich nicht wirklich, und ich möchte meine Familie auch nicht zu lange alleine lassen. Außerdem erwäge ich, die Alpen in umgekehrter Richtung, also von Süd nach Nord zu überqueren. Insgesamt werde ich damit 21 oder 22 Tage unterwegs sein und dabei mindestens 50 Täler und 50 Gipfel passieren.

Jedenfalls dachte ich, es wäre eine schöne Idee und es würde doch wunderbar zu mir passen, wenn die Menschen, die mir etwas bedeutet haben und immer noch etwas bedeuten, mich dabei begleiten. Das wäre gleichsam das größte Geschenk, das sie mir damit machen könnten. Es ist ja bekannt, dass ich überhaupt kein Freund von Geburtstagsfeierei und Geburtstagsschenkerei bin, wenigstens wenn es sich um meinen eigenen handelt. So lade ich euch ein, Teile des Weges mit mir zu gehen. Dieser führt durch insgesamt vier landschaftlich herrliche Gebirgszüge: die julischen Alpen in Slowenien, die karnischen Alpen zwischen Italien und Österreich, die Hohen Tauern in Österreich und die Berchtesgadener Alpen.

Die einzelnen Wegabschnitte sind jeweils so gewählt, dass sie in 5 bis 8 Stunden Gehzeit zu bewältigen sind. Wie im richtigen Leben geht es dabei bergauf und bergab, es gibt leichtere, aber auch sehr fordernde Etappen. Die Übernachtung ist meistens in Berghütten, wo es in der Regel eng und recht spartanisch (aber immer gemütlich) zugeht, manchmal auch in Gasthäusern im Tal. In den Tälern zwischen den Gebirgsgruppen gibt es Bus- und Bahnanschluss und damit mehrere günstige Ein- und Ausstiegspunkte.

Natürlich ist mir klar, dass das nichts für jeden ist. Deswegen habe ich vor, in meinem Blog von meiner Pilgerreise live zu berichten. Es wird Bilder und Texte geben. Und ich werde die Kommentarfunktion öffnen. So können wir die Verbindung auch aus der Ferne halten. Nähere Details werde ich zu gegebener Zeit bekannt geben.

Was hältst du von meiner Idee? Und vor allem: Bist du dabei? Schreib mir gerne an: christian@kreatil.de

Genießertour auf dem Berliner Höhenweg im Zillertal/Tirol

Die Zillertaler Alpen sind eine ganz besonders schöne Gegend, das muss ich gleich einmal vorweg schicken. Unsere Genießertour im August 2019 war mein erster Besuch in diesem herrlichen Fleckchen Tirols und es wird sicher nicht mein letzter gewesen sein.

Es beginnt schon mit der Anreise bis Mayrhofen, die sich von Deutschland aus ganz bequem und völlig problemlos mit dem Zug bewältigen lässt. In knapp 5 Stunden ist man von Würzburg bis Mayrhofen gefahren und taucht sogleich ein in eine völlig andere Welt. In Mayrhofen geht es sehr touristisch zu, ein klassischer Wintersport-Ort, der aber auch im Sommer sehr gut besucht ist. Ein Hotel reiht sich an das nächste und das fast unüberschaubare Angebot an Cafés, Restaurants, Sportgeschäften und Souvenirläden zeugt von der Kaufkraft der Gäste.

Nach letzten Besorgungen setzen wir, Mark, Florian und ich, unsere Anreise per Bus fort bis in den Nachbarort Finkenberg, wo wir auf der schönen Terrasse des Hotels Persal ein kleines Mittagsmahl einnehmen und diverse Biere verkosten. Die Speisekarte weist deren über 80 Sorten aus, die meisten davon Craft-Biere aus der Region, aber unter anderem auch aus Deutschland, Tschechien, Belgien, den Niederlanden und sogar aus Übersee.

Gestärkt können wir nun den 3-stündigen Aufstieg zu unserer ersten Übernachtungsstation, der Gamshütte, angehen. Der Wanderpfad schlängelt sich auf unzähligen Serpentinen über 1.000 Höhenmeter durch den malerischen Bergwald. Zeit sich auszutauschen, Zeit für angeregte Gespräche über Politik und Gesellschaft, aber auch Zeit durchzuatmen und den Kopf frei zu kriegen.

Die Gamshütte ist eine sehr kleine, aber dafür umso urigere Hütte. Die Duschen befinden sich im Freien, der Waschraum unter der Hütte, und das Wasser ist eiskalt. Wir brauchen noch einen Moment, um vom Komfort der modernen Zivilisation auf einfachere Verhältnisse zurückzuschalten. Die Wirtsleute erleben wir als sehr freundlich, es geht dort gemütlich und familiär zu.

Anderntags machen wir uns um 8 Uhr bereit zur ersten und, mit 9 Stunden Gehzeit, gleichzeitig längsten Etappe unserer Tour.

Knapp oberhalb der Gamshütte ein Blick zurück nach Mayrhofen

Der Weg von der Gamshütte zum Friesenberghaus hat es gleich in mehrfacher Hinsicht in sich. Zum einen ist es einfach eine sehr lange Etappe, die Kondition und Durchhaltevermögen einiges abverlangen. Zum anderen verläuft der „schwarze“, also mit der höchsten Schwierigkeitsstufe deklarierte Wanderweg durchgehend auf über 2.000 Höhenmeter, damit oberhalb der Baumgrenze, und in Kombination mit seiner Ausrichtung zur Sonne hin wird einem an richtigen Sommertagen ganz schön eingeheizt. Wobei wir Glück haben mit dem Wetter, denn es ist heute wechselnd bewölkt mit vielen sonnigen Abschnitten, und dabei nicht zu warm. Landschaftlich bietet sich uns ein herrliches Bild, mit reizvollen Ausblicken über die Zillertaler Alpen bis nach Südtirol und immer wieder Einblicken in die Hochtäler zwischen den langgestreckten Bergketten.

Auf dem Weg zum Friesenberghaus, Blickrichtung Südwesten
Felsblöcke pflastern auf dieser Etappe über weite Strecken unseren Weg

Am späten Nachmittag haben wir unseren mentalen Tiefpunkt erreicht, nachdem hinter dem x-ten Bergrücken mit immer wieder anstrengenden Auf- und Abstiegen noch immer nicht die ersehnte Hütte in Sicht kommt. Dazu gesellt sich ein Wetterwechsel, der uns zum einen die Sicht raubt und zum anderen mit Graupelschauern „erfreuen“ möchte. Doch endlich ist das Friesenberghaus erreicht, wo uns bereits Hans, unser vierter Mann, erwartet, der an dem Tag von der Dominikushütte aufgestiegen ist. Wir kommen gerade rechtzeitig zum Abendessen und die Strapazen sind rasch vergessen. Die Gaststube der Hütte ist rappelvoll und auch die Schlafplätze sind an diesem Tag ausgebucht. Dank unserer Vorreservierung schlafen wir in Zweibett-Zimmern, ein eher seltener Luxus in den Bergen. Das Friesenberghaus wird bewirtschaftet von jungen Wirtsleuten mit Kindern. Man merkt der ganzen Mannschaft an, dass ein guter Geist auf der Hütte herrscht. Trotz der vielen Gäste wirken die Leute sehr entspannt und sind immer freundlich.

Abstieg vom Friesenberghaus

Der nächste Morgen präsentiert sich anfangs wolkenverhangen. Jedoch klärt sich der Himmel im Laufe des Vormittags zusehends auf und das Wetter bleibt stabil. Der Übergang zur Olperer Hütte gestaltet sich, vor allem aufgrund seiner Kürze, als nicht zu anspruchsvoll, und bietet uns immer wieder reizvolle Ausblicke hinunter zum Schlegeisspeicher, dem Oberbecken eines Pumpspeicherkraftwerks. Als wir am Nachmittag kurz vor der Hütte eine Hängebrücke passieren, sind wir erstaunt über die vielen Leute, die an der Brücke anstehen. Zunächst wundern wir uns, warum immer nur ein Mensch hinübergeht, bis wir erkennen, dass diese jeweils für ein Foto posieren. Kopfschüttelnd gehen wir bis hinunter zur Olperer Hütte. Dort klärt sich das Rätsel für uns auf. Wir sind an einem touristischen Hotspot angekommen. Die Massen an Tagestouristen kommen großteils vom Speichersee hochgewandert. Und die Hängebrücke ist wohl eines der beliebtesten Fotomotive im Zillertal.

Olperer Hütte mit Blick auf den Schlegeisspeicher
DER Instagram-Hotspot im Zillertal

Die Olperer Hütte ist eine sehr moderne Hütte, mit seinen großen Panorama-Fenstern in der Gaststube. Sie wurde im Jahr 2008 neu errichtet. Am Haus selbst gibt es für uns nichts zu meckern, jedoch finden wir sie schon arg überlaufen.

Die dritte Etappe führt uns zunächst hinab zum Schlegeisspeicher. Obwohl wir relativ früh dran sind, begegnen wir unterwegs den Karawanen an Menschen, die vom Parkplatz hinauf zur Hütte ziehen. Uns wird bewusst, dass die Wirtsleute täglich eine logistische Meisterleistung vollbringen. Und das ohne Straßenanbindung und ohne Lastenaufzug. Die Hütte wird komplett mit dem Hubschrauber versorgt. Wie lange wohl noch, in Zeiten des menschengemachten Klimawandels?

Unten angekommen, legen wir an der Dominikushütte eine Mittagsrast ein. Auf der Terrasse werden wir super nett bedient. Ich glaube, wenn mich jemand nach der Definition von „Gastfreundlichkeit“ fragte, dann würde ich die Hüttenwirtin als Beispiel nennen.

Auf der Staumauer des Schlegeisspeichers. Knapp oberhalb ist die Dominikus-Hütte gelegen.

Schweren Herzens brechen wir wieder auf, unserem eigentlichen Ziel entgegen, dem Furtschaglhaus. Nach der Umrundung des Speichersees geht es in einem kurzen, aber knackigen Aufstieg bergan, und schon sind wir oben. Auch hier treffen wir auf ein volles Haus, aber wen wundert’s? Es ist Wochenende und für den Sonntag ist herrliches Wetter gemeldet. Die Hütte selbst ist vorbildlich organisiert, für meinen Geschmack fast überorganisiert. Aber alles läuft wie am Schnürchen. Die Wirtsleute sind bestimmt, aber freundlich. Wie bereits auf der Olperer Hütte verbringen wir einen vergnüglichen Hüttenabend bei „Mäxchen“, Bier und Kaiserschmarrn. Lediglich das Frühstück am anderen Morgen gestaltet sich als etwas stressig: Das Gedränge und die Luft in der zu engen Gaststube lassen uns nach draußen ausweichen.

Letztes Gruppenfoto vor dem Abschied
Auf zum Schönbichler Horn

Nun heißt es für uns Abschied nehmen: Hans und Florian steigen ab ins Tal. Danke für drei bzw. vier wunderbare Tage mit euch! Mark und ich machen uns bei herrlichem Kaiserwetter auf zur Berliner Hütte. Der 850 Hm – Aufstieg zum Schönbichler Horn liegt zu dieser Tageszeit noch größtenteils im Schatten, was ein großer Vorteil ist: So kommen wir nicht so schnell ins Schwitzen. In knapp 3 Stunden sind wir oben. Die letzten 100 Höhenmeter gestalten sich als durchaus anspruchsvolle Kletterei, teilweise mit ausgesetzten Stellen. Vom Gipfel haben wir dank des Wetters einen wunderbaren Fernblick, besser kann es nicht sein.

Klettersteig zum Schönbichler Horn (Westseite)
Auf dem Schönbichler Horn haben wir eine super Fernsicht
Gipfelkreuz des Schönbichler Horns
Klettersteig zum Schönbichler Horn (Ostseite)

Dann kommt der Abstieg auf die andere Seite, der es wirklich, wirklich in sich hat. Insgesamt müssen wir an dem Tag rund 1200 Höhenmeter abbauen! Davon die ersten 150 Höhenmeter wieder als Klettersteig mit Schwierigkeitsgrad I. Auch die restlichen rund 1.000 Höhenmeter sind nicht von Pappe. Es geht über einen durchweg holprigen und stolprigen, mit Geröll und Felsbrocken durchsetzten Pfad, der unseren Gelenken bis zum bitteren Ende das Äußerste abverlangt. Vor allem die Sprunggelenke spüre ich abends dann deutlich. Aber auch die Knie machen sich schmerzhaft bemerkbar.

Brücke über die Schmelzwasser der Gletscher

Belohnt für die langen Strapazen werden wir mit einem Aufenthalt in der altehrwürdigen Berliner Hütte, der für uns tatsächlich einer Zeitreise in die Kaiserzeit gleicht. In den großen, kunstvoll holzvertäfelten Speisesaal hätte die Gamshütte locker hinein gepasst (ohne Übertreibung!). Daneben gibt es noch weitere Säle und Räume, wo Menschen sitzen, essen, trinken und spielen. Erwähnenswert auch die Eingangshalle mit Empfangs-Schalter. Wirklich die komplette Ausstattung stammt noch aus kaiserlichen Zeiten, bis hin zu den Toiletten hinter dem Speisesaal. Wir haben ein Zweibett-Zimmer mit Einzelbetten (und richtigem Bettzeug) für uns alleine. Der Kaiserschmarrn, den wir am späten Nachmittag einnehmen, erweist sich als eine solch riesige Portion, dass wir abends kaum mehr Appetit haben auf das Abendessen. Bei dieser Gelegenheit lernen wir auch das Pärchen Sabrina (aus Kalifornien) und Kati (aus Wien) kennen, die sich an unseren Tisch gesellen. An dem Abend bringen wir der jungen Kalifornierin das Mäxchen-Spielen bei.

Empfangshalle der Berliner Hütte
Großer Speisesaal der Berliner Hütte
Berliner Hütte von außen

Anderntags dann der Übergang zur Greizer Hütte über Schwarzsee und Mörchenscharte. Hat sich das Wetter am Morgen bereits deutlich eingetrübt, bleiben wir beim Aufstieg noch trocken. Ganz anders dann die Situation auf der Mörchenscharte. Dichter Nebel verhüllt uns jegliche Sicht. Ein eiskalter Wind zwingt uns, warme Kleidung anzuziehen. Und es setzt Regen ein. Die ersten 100 Höhenmeter bergab sind wieder als Klettersteig zu bewältigen, auch hier teilweise mit Schwierigkeitsstufe I. Bei Nässe gestaltet sich das nochmal schwieriger, aber wir meistern es ganz gut. Direkt im Anschluss geht es über enge Serpentinen steil über ein Schutt- und Geröllfeld, das unseren Gelenken wiederum alles abverlangt. Über einen Grasrücken geht es weiter bergab, und dann in eine enge Schlucht hinein. Im Finale des 900 Hm-Abstiegs dann ein zweiter, kurzer Klettersteig, der als Schlusspointe mit einer senkrecht an einer Felswand angebrachten Aluleiter aufwartet. Danach geht es auf wackeligen Brücken über reißende Wildbäche, bevor wir endlich den Aufstieg zur Greizer Hütte in Angriff nehmen können. Der Regen bleibt uns ein treuer Begleiter bis zu unserer Ankunft. Dafür werden wir am späten Nachmittag noch mit etwas Sonne belohnt, so dass wir auch unsere Schuhe und Kleidung etwas trocknen können. Die Greizer Hütte erlebe ich als sehr positiv: freundliche Wirtsleute, gutes Essen und ruhige Zimmer. Bemerkenswert auch der Ziegenbock mit den dicken Klöten, der mehr als einmal durch die Gaststube gelaufen kommt. Auch der Spieleabend, wieder mit Sabrina und Kati, sowie – neu – Paul aus den Niederlanden, gestaltet sich als sehr gemütlich, lustig und unterhaltsam. An dem Abend erfahren wir, dass die beiden Mädels gerade eine längere Auszeit nehmen und einen Reiseblog betreiben. Wenn ihr mögt, schaut mal rein: moonhoneytravel.com

Schwarzsee
Auf dem Weg zur Mörchenscharte
Blick von der Greizer Hütte

Ausgeruht und gestärkt können wir anderntags den Übergang zur Kasseler Hütte in Angriff nehmen. Die Lapenscharte ist zwar recht unspektakulär, aber auch ab hier setzen recht bald Regenschauer ein, die uns an diesem Tag immer wieder begleiten sollen. Nach dem Abstieg von der Lapenscharte ist die Kasseler Hütte auf der gegenüberliegenden Seite des Talkessels sichtbar, den wir nun hufeisenförmig zu umrunden haben. Obwohl der weitere Weg keine größeren Auf- und Abstiege mehr bereit hält, bietet er doch die eine oder andere Überraschung. Zum Beispiel in Form von sehr schwierig zu überkletternden Felsschrägen, oder auf wackeligen Steinen zu überquerenden, reißenden Wildbächen, und auch einigen seilversicherten Kletterpassagen. Gegen Nachmittag lassen die Schauer endlich nach, so dass die eine oder andere Pause für uns drin ist.

Lapenscharte
Der wolkenverhangene Talkessel zwischen Lapenscharte (links) und Kasseler Hütte (rechts)
Das letzte Stück zur Kasseler Hütte

Auf der Kasseler Hütte sollen wir unseren letzten Abend auf über 2.000 Metern verbringen, aber das wissen wir zu dem Zeitpunkt noch nicht. Um ausreichend ausgeruht zu sein für die letzte große Etappe, die 9 bis 10 Stunden über den Sieben-Scharten-Steig zur Edelhütte, legen wir uns früh ab. In der Nacht setzt heftiger Regen ein, der bis in den Morgen anhält. Um 8 Uhr dann die Ansage vom Hüttenwirt, der Steig sei heute nicht oder nur unter erheblichem Zeitaufwand zu gehen. So entscheiden wir um 9 Uhr, eine Regenpause abzuwarten und dann ins Tal abzusteigen. Mit uns warten noch weitere Leute, so dass sich schnell eine gemütliche Vormittags-Spielerunde zusammenfindet. Bei Kaiserschmarrn und Bier lassen wir es uns gut gehen. Außerdem ist da noch ein älterer Herr aus Hessen, der sich tags zuvor den Fuß verknackst hatte und nicht mehr weiter laufen kann. Zuerst heißt es, er werde mit dem Helikopter abgeholt. Da jedoch das Wetter nicht besser wird, wollen ihn die Bergretter mit einer rollbaren Trage zu Tal bringen. Als wir uns um 12.30 ins Tal verabschieden, wartet der Arme immer noch auf Rettung. Das Wetter ist uns nun glücklicherweise hold, so dass wir trockenen Fußes das Tal erreichen. Unten dann die Überraschung: Die Bergrettung hat sich an der Talstation des Lastenaufzugs der Kasseler Hütte postiert. Unsere Nachfrage ergibt tatsächlich, dass der Verletzte mit dem Lastenkorb zu Tal gebracht wird. Und wirklich schwebt dieser kurz darauf hoch über unseren Köpfen zu Tal und winkt uns dabei freundlich zu.

Der Lastenkorb mit dem Verletzten (nicht erkennbar auf dem Foto)

Ab der Grüne-Wand-Hütte können wir dann mit dem Hüttentaxi für 10 Euro pro Person das 12 Kilometer lange Tal bis Mayrhofen überbrücken, so dass wir noch ausreichend Zeit haben, uns eine Bleibe für die Nacht zu suchen. Mit dem Posthotel Mayrhofen sind wir sofort fündig und sogar die Sauna wird eigens für uns angeworfen. Im Restaurant Edelweiß findet unsere Wanderwoche abends bei Burger & Pizza ihren gemütlichen Ausklang.
Die Heimfahrt gestaltet sich völlig unspektakulär. Alle Züge sind pünktlich! Lediglich ein dreistündiger Zwischenaufenthalt in Jenbach erbringt, dass dieser Ort keinen(!) Besuch wert ist.

Fazit

Für mich persönlich war diese Wanderwoche das Highlight des Jahres. Die Stille wirken lassen. Sich der Einsamkeit hingeben. Die Elemente Feuer, Luft, Wasser, Erde hautnah erleben. Den Körper richtig in Schwung bringen. Die eigenen Grenzen erfahren. Den Blick in die Ferne schweifen lassen. Die ungetrübte Freude am Erreichten genießen. Menschen ungefragt mit „Du“ anreden, ohne dass sie es einem krumm nehmen. Gemütliche Hüttenabende verbringen bei gutem Essen und Trinken, Gesprächen und Spielen. Das alles kann man (nur) in den Bergen erleben. Ich bin noch ganz erfüllt von den Erlebnissen und Eindrücken, die ich dort erfahren und sammeln durfte. Solche Aus-Zeiten sind wirklich wichtig, in welcher Form auch immer. Noch wichtiger ist, dass man sie sich nimmt. Gut erholt und mit neuer Kraft kann es nun für mich in den Herbst gehen.