Fünf Jahre nach dem Lockdown …

Fünf Jahre nach dem ersten Corona-Lockdown ringt die deutsche Gesellschaft – oder zumindest Teile davon – mit der Aufarbeitung einer historischen Ausnahmesituation. Der kollektive Kraftakt zur Eindämmung einer unsichtbaren Gefahr ist inzwischen zu einem heftig umkämpften Erinnerungsraum geworden. In seinem Essay in der ZEIT bescheinigt Johannes Schneider der aktuellen Debatte eine Schlagseite: Lautstark artikulierten sich vor allem jene, die sich von den damaligen Maßnahmen übergangen, entrechtet oder gar geschädigt fühlen – während die Mehrheit der Bevölkerung, die die politischen Entscheidungen damals mittrug, heute oft schweige.

Schneiders zentraler Punkt: Die derzeitige Erzählung sei verzerrt. Wer die Corona-Zeit vor allem als Phase staatlicher Willkür und übergriffiger Maßnahmen darstellt, lasse eine große Zahl von Menschen unerwähnt, die die Maßnahmen mitgetragen und sich solidarisch verhalten hätten. Dabei seien diese Stimmen für eine ehrliche gesellschaftliche Rückschau ebenso wichtig – gerade auch, um die demokratische Erinnerungskultur nicht einer lautstarken Deutungsminderheit zu überlassen.

In den Leserkommentaren unter dem Artikel prallen dann auch unterschiedliche Sichtweisen aufeinander. Daraus kann ich nur schließen, dass die Pandemie längst nicht abgeschlossen ist – nicht in wissenschaftlicher Hinsicht, vor allem aber nicht gesellschaftlich.

Die Kritiker der Maßnahmen: Zwischen Freiheitsverlust und Vertrauensbruch

Viele Kommentatoren melden sich mit einer dezidierten Kritik an der damaligen Politik zu Wort. Sie sehen in den Lockdowns, Schulschließungen und Kontaktverboten unverhältnismäßige Eingriffe in die Grundrechte. Vor allem Kinder, Jugendliche, Selbstständige und psychisch belastete Menschen hätten unter den Maßnahmen gelitten. Ein häufig wiederkehrender Vorwurf lautet: Die Politik habe mit Angst gearbeitet, Medien hätten gleichgeschaltet gewirkt, und kritische Stimmen seien pauschal diffamiert worden.

Zentrale Kritikpunkte umfassen die lange Dauer einzelner Maßnahmen, unklare oder widersprüchliche Kommunikation, sowie das Fehlen belastbarer Daten zur Wirksamkeit der Einschränkungen. Auch der Vergleich mit Ländern wie Schweden, die weniger restriktiv vorgingen und dennoch vergleichsweise geringe Übersterblichkeit verzeichneten, wird zur Untermauerung dieser Position herangezogen. So schreibt User „Wiesner.2055” am 23.3.2025: „Am besten lief es in Schweden, mit den vergleichsweise geringsten autoritären Maßnahmen. Während der Pandemie wurde von Maßnahmenbefürwortern getönt: Die Schweden werden schon sehen, am Ende wird die Übersterblichkeit dort am schlimmsten sein. Das Gegenteil ist eingetreten. Schweden hat nachweislich mit die geringste Übersterblichkeit in ganz Europa in den Coronajahren gehabt, deutlich geringer als die absilut vergleichbaren direkten Nachbarländer. Und was fällt den Maßnahmenbefürwortern von damals ein: Relativieren, Ablenken, in Zweifel ziehen, Ignorieren. Tja denn, ihr seid größtenteils wohl leider nur daran interessiert Recht zu behalten. Verantwortung übernehmen, echte Aufarbeitung und Einsicht sieht halt anders aus.”

Besonders emotional sind Beiträge zur Impfpolitik: Kritisiert wird sowohl der gesellschaftliche Druck durch 2G-Regeln als auch der Umgang mit Impfschäden. Einige Kommentatoren werfen den Verantwortlichen eine mangelnde Bereitschaft zur echten Aufarbeitung vor – stattdessen werde beschwichtigt, relativiert oder ignoriert. Die Empörung scheint sich auch aus dem Gefühl zu speisen während der Pandemie moralisch oder sozial ausgegrenzt worden zu sein.

Die Befürworter der Maßnahmen: Verantwortung, Solidarität und schwierige Entscheidungen

Demgegenüber stehen Leserinnen und Leser, die die Corona-Politik als notwendig und vernünftig verteidigen. Sie verweisen auf die außergewöhnliche Bedrohungslage: Überlastete Intensivstationen, hohe Sterberaten in Nachbarländern, ein Virus, dessen Ausmaß und Gefährlichkeit zunächst kaum abzuschätzen waren. In diesem Licht erscheinen die Maßnahmen nicht als autoritär, sondern als Ausdruck von Verantwortung und Solidarität – besonders gegenüber älteren und vulnerablen Gruppen.

So schreibt Nutzer „Geisterstunde” am 24.3.2025: „Mir gehen Leute auf die Nerven, die meinen im Herbst 2020 hätten es auch schwächere Maßnahmen getan, da die Krankenhäuser noch nicht flächendeckend überlastet waren, die nicht verstehen, dass Maßnahmen nicht sofort wirken, dass 2 weitere Verdoppelungen der Patientenzahlen zu einer großflächigen Überlastung der Krankenhäuser geführt hätten und es kurz davor war. Ich weiß nicht wie man ignorieren kann, dass die Verzögerung der Maßnahmen um 2 Wochen tausende von Menschenleben gekostet hat.”

Viele Befürworter räumen ein, dass in der Umsetzung einzelner Maßnahmen Fehler gemacht wurden, betonen aber, dass die meisten Entscheidungen unter großem Zeitdruck und auf unsicherer Datenbasis getroffen werden mussten. Die früh verfügbaren Impfmöglichkeiten, die Rettung vieler Menschenleben und das erfolgreiche Abstandhalten gelten als Belege für ein grundsätzlich funktionierendes Krisenmanagement.

Gleichzeitig sehen sie die aktuelle Debatte mit Skepsis: Häufig werde pauschal verurteilt, ohne den Kontext der damaligen Lage zu berücksichtigen. Kritisiert wird auch das Verhalten mancher Maßnahmengegner, denen mangelnde Einsicht und ideologische Voreingenommenheit vorgeworfen werden. Die Solidarität der Mehrheit, die sich impfen ließ und Maßnahmen mittrug, dürfe in der heutigen Rückschau nicht untergehen. Zudem wird beklagt, dass der Geist des Miteinanders im Laufe der Debatte verloren ging. Beispielsweise schreibt Nutzer „EgalWieSchall&Rauch” am 23.3.2025: „Am Bedauerlichsten ist, dass die Stimmung vom Anfang verloren ging. Dieses mitfühlende einander Zuhören (natürlich wurde gerade wegen des Lockdowns intensiv darüber gesprochen). Der Zusammenhalt, die Bereitschaft das beste draus zu machen, sich gegenseitig zu helfen.”

Die Vermittler: Für eine ehrliche und lernbereite Gesellschaft

Zwischen den Fronten positionieren sich differenzierende Stimmen, die weder pauschale Verurteilungen noch rückhaltlose Rechtfertigungen für sinnvoll halten. Diese Kommentatoren betonen, dass die Corona-Krise eine extrem komplexe Herausforderung darstellte – ohne einfache Antworten. Sie fordern eine sachliche und vorurteilsfreie Aufarbeitung, die sowohl die Notwendigkeit vieler Maßnahmen anerkennt als auch deren negative Nebenwirkungen offen anspricht.

Zentral für diese Perspektive ist das Eingeständnis von Ambivalenzen: Ja, es wurden Fehler gemacht – in Kommunikation, Umsetzung, Prioritätensetzung. Aber nein, das bedeutet nicht, dass alles falsch oder gar böswillig war. Diese Position plädiert für einen demokratischen Diskursstil, der produktive Lernprozesse ermöglicht – statt Schuldzuweisungen oder moralischer Überhöhung.

Gleichzeitig wird auch zur Selbstreflexion aufgerufen: Man solle nicht mit dem Wissen von heute über die Entscheidungen von gestern urteilen, sondern aus ihnen lernen, um in zukünftigen Krisen besser und menschlicher handeln zu können.

Fazit: Zwischen Polarisierung und Lernbereitschaft

Sicher: Solche Online-Leserkommentare unter einem Zeitungsbeitrag sind nur eine Momentaufnahme und noch dazu eine verzerrte, weil sie nicht als repräsentativ gelten kann. Dennoch scheinen sie mir die Spannungen einer Gesellschaft zu spiegeln, die nach einer extrem belastenden Zeit um Normalität ringt. Während manche die Pandemie als beispiellosen Kontrollverlust empfinden, sehen andere sie im Rückblick als vorübergehenden Notfallmodus einer Gesellschaft, in dem Solidarität auch zulasten von Freiheitsrechten gehen musste – und wieder andere erkennen in ihr vor allem ein kollektives RIngen um Orientierung und Zusammenhalt.

Für eine gerechte und demokratische Aufarbeitung braucht es meiner Ansicht nach all diese Stimmen – in Anerkennung ihrer Widersprüche und in der Hoffnung auf gegenseitiges Verstehen und Verzeihen, vielleicht auch Versöhnung.

Die Leerstelle: Schweigen der Mehrheit

Schließlich bleibt die Frage offen, warum die Mehrheit jener, die damals überzeugt „Ja“ sagten zu den Maßnahmen, heute schweigt. Johannes Schneider sieht darin eine gefährliche Leerstelle. Ist es Resignation? Angst vor Shitstorms? Oder schlicht das Gefühl, dass die eigene Sicht nicht mehr gefragt ist? Was auch immer die Gründe sind – wenn öffentliche Erinnerung sich nur aus den Stimmen der Enttäuschten, Empörten oder Radikalisierten speist, ist eine ausgewogene historische Aufarbeitung wohl kaum möglich.

Bild: Christian Schmitt via Dall-E 3