Die liberale Demokratie steht an einem kritischen Wendepunkt – und das nicht irgendwo, sondern in ihren einstigen Vorzeigeländern. Donald Trump ist zurück im Amt. Kaum vereidigt, hat sein Sonderbeauftragter Elon Musk mit der Entlassung zehntausender Staatsbediensteter begonnen. Die Regierung agiert fast ausschließlich per Dekret, während zugleich der Druck auf Justiz und Hochschulen massiv zunimmt. Weltweit mehren sich die Stimmen, die nicht weniger als den Umbau der US-Demokratie wahlweise in eine Autokratie oder in eine Oligarchie der Milliardäre diagnostizieren – ein Vorgang, der bisher meist mit Ungarn oder Russland assoziiert wurde.
Gleichzeitig verzeichnet auch hier in Europa die autoritäre Rechte historische Wahlerfolge: Die AfD erzielt bei der Bundestagswahl 2025 ein Ergebnis, das noch vor wenigen Jahren undenkbar schien, und in Österreich stand die FPÖ im Jahr 2024 kurz vor der Regierungsübernahme.
Die Frage liegt auf der Hand: Was passiert hier gerade – und warum?
Geht unsere Demokratie an äußeren Feinden zugrunde oder an inneren Erosionen? Liegt die Wurzel in wachsender Ungleichheit, einem sich entziehenden politischen System – oder in einem übersteigerten Individualismus, der den Blick für das Gemeinwohl verloren hat?
Individualismus – Symptom oder Ursache?
Individualismus als alleinige Ursache im Rahmen einer Diagnose der gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Probleme halte ich für verkürzt. Ob er allerdings lediglich ein Symptom ist, da bin ich mir nicht so sicher. Vielleicht müssen wir uns zunächst einmal darüber verständigen, was wir unter Individualismus überhaupt verstehen.
Ich begreife Individualismus als die Emanzipation des Einzelnen vom Kollektiv – eine Idee, auf der nicht zuletzt die Menschenrechte beruhen, die in vielen Staaten verfassungsrechtlich verankert sind und auch der UN-Charta zugrunde liegen. In diesem Sinn ist Individualismus ein zutiefst humanistisches Prinzip – und eine der Grundsäulen der liberalen Demokratie.
Gleichzeitig zeigt ein Blick in die Ideengeschichte, wie unterschiedlich dieses Prinzip ausgelegt werden kann: Friedrich Nietzsche etwa denkt Individualismus radikal subjektiv – jenseits von Moral oder Gemeinschaft. In den USA (und nicht nur dort) wurde daraus im Libertarismus eine politische Strömung, die den Staat als Gegner der individuellen Freiheit versteht. Ayn Rand, Ikone dieser Bewegung, propagierte in Atlas Shrugged eine Ethik der Selbstbehauptung, in der staatliches Eingreifen nahezu ausnahmslos negativ bewertet wird.
Das zeigt: Individualismus ist nicht gleich Individualismus. Kants Idee vom mündigen Subjekt, das autonom handelt, aber stets auch das Allgemeine mitdenkt, unterscheidet sich fundamental von einem rücksichtslosen Autonomiebegriff im neoliberalen oder libertären Sinne.
Und genau darin liegt für mich der Knackpunkt: Wir müssen uns fragen, welche Art von Individualismus wir meinen, wenn wir über gesellschaftliche Auswirkungen sprechen.
Hierbei dürfen natürlich strukturelle Faktoren nicht ausgeblendet werden. Armut, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und mangelnde Bildungschancen untergraben seit jeher demokratische Teilhabe. Wer in permanenter (auch materieller) Unsicherheit lebt, hat kaum Ressourcen, sich konstruktiv in politische Prozesse einzubringen. Politikwissenschaftliche Studien bestätigen das immer wieder. Und genau hier zeigt sich auch eine Verbindung zur Professionalisierung der Politik. Ich würde noch ergänzen: auch eine Verwissenschaftlichung (man denke etwa an die Klimapolitik oder die Corona-Krisenpolitik), die politische Prozesse häufig technokratisch erscheinen lässt und damit ihre wahrgenommene Legitimität untergräbt. Und das ganz unabhängig davon, wie alternativlos fachliche Expertise in manchen komplexen Politikfeldern inzwischen geworden ist.
Entfremdung der Individuen von der Politik
Beides trägt in meinen Augen zur Entfremdung bei – besonders bei Menschen, die sich nicht ernstgenommen oder gehört fühlen. Politik wird zur Black Box, zu einem System, das „irgendwo da oben“ operiert, während man selbst mit den alltäglichen Härten des Lebens ringt. Aus dieser Mischung aus Frustration, Trotz und Ohnmacht wenden sich viele den Populisten an den politischen Rändern zu – nicht unbedingt, weil sie deren Programme rational durchdacht hätten, sondern weil deren einfache Narrative emotional andocken und ein Gefühl von Kontrolle und Identität vermitteln.
Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, den Erfolg populistischer Bewegungen ausschließlich als „Protest der Abgehängten“ zu deuten. Auch viele Menschen aus der bürgerlichen Mitte, gut ausgebildet und materiell abgesichert, gehen rechtspopulistischen oder autoritären Erzählungen nur zu gerne „auf den Leim“ – sei es aus Angst vor gesellschaftlichem Wandel (man denke etwa an die Migrations- oder Gender-Debatte), aus Misstrauen gegenüber politischen und medialen Eliten oder aus einem tiefsitzenden Wunsch nach klarer Orientierung und einfachen Antworten in einer als komplex und widersprüchlich empfundenen Welt. Beispiele dafür sehen wir sowohl in Deutschland mit der AfD als auch in den USA mit der MAGA-Bewegung rund um Donald Trump.
Social Media als „Brandbeschleuniger”
Diese Dynamiken werden nicht zuletzt durch den Wandel der Medienöffentlichkeit verstärkt. Die sozialen Medien haben es in den letzten Jahren möglich gemacht, dass affektgeladene, vereinfachte oder gar verschwörungstheoretische Inhalte ungefiltert und in Echtzeit verbreitet werden. Der Unterschied zu vor zwanzig Jahren ist eklatant: Damals dominierten noch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und einige privatwirtschaftliche Medienhäuser, die – mit Ausnahme der Boulevardpresse – zumindest einem gewissen journalistischen Ethos verpflichtet waren. Heute konkurrieren sie mit einem endlosen, breiten wie lauten Strom an digitalem Nonsens, dessen Reichweite sich eher nach Likes und Algorithmen richtet als nach Relevanz oder Faktenlage.
Das verändert nicht nur, was kommuniziert wird, sondern auch, wie politische Debatten geführt werden – und ob überhaupt noch ein gemeinsamer Kommunikationsraum existiert, der Verständigung erlaubt. Womit ich wieder bei meiner Kritik an einem Individualismus bin, der den Blick für das große Ganze und den gesellschaftlichen Zusammenhalt verloren hat.
Vielleicht müssen wir daher zwei Fragen gleichzeitig stellen:
- Wie viel Individualismus verträgt eine Gesellschaft – und welche Art von Individualismus braucht sie?
- Und wie kann politische Teilhabe in Zeiten medialer Fragmentierung und wachsender sozialer Ungleichheit überhaupt noch gelingen?
Neue Antworten darauf werden nicht von selbst entstehen. Sie müssen diskutiert, ausprobiert und konkret erarbeitet werden. Besonders die Idee, neue Plattformen oder Diskussionsräume aktiv (mit)zugestalten, erscheint mir dabei zentral. Gerade weil viele klassische Orte der politischen Sozialisation – wie Schulen, Vereine oder Kirchengemeinden – an Bindungskraft verlieren, braucht es neue Formate und vielleicht auch mutigere Experimente.
Mir fallen in diesem Zusammenhang die Bürgerwerkstätten und Bürgerräte ein, die auf kommunaler Ebene teils schon praktiziert werden (mit unterschiedlichem Erfolg) – aber inzwischen auch auf Landes- und Bundesebene getestet werden. Ich halte viel davon, solche deliberativen Verfahren weiter auszubauen, gerade weil sie nicht auf Repräsentation durch Parteien oder politische Teilhabe durch Wahlen beschränkt sind, sondern Menschen konkret ins Gespräch miteinander bringen können – über Meinungsgrenzen hinweg.
Freilich besteht auch die Gefahr, dass Bürgerinnen und Bürger viel Zeit und Herzblut in solche Prozesse investieren und am Ende feststellen, dass nur wenig davon in der realen Politik wirklich umgesetzt wird. Wie man dem entgegenwirken kann, darauf habe ich bislang leider keine überzeugende Antwort gefunden.