Die Endlichkeit des Lebens: Eine Überlebensstrategie

Anlässlich der Europawahl 2024 tritt die Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung mit einer kühnen Vision auf die politische Bühne: Ein unbegrenzt langes, gesundes Leben für alle. Ihre Forderung, 40 Milliarden Euro jährlich zusätzlich zur bestehenden Forschung in die Verjüngungsmedizin zu investieren, sorgt bei manchen für Aufsehen, bei anderen für Verwunderung und wieder bei anderen für ein mildes, vielleicht auch gelangweiltes Lächeln.

Während die Idee eines verlängerten Lebens zugegebenermaßen auch mir zunächst faszinierend und erstrebenswert erscheint, lenkt sie den Blick auf ein uraltes menschliches Dilemma: Das Hadern mit der Endlichkeit des Lebens (vgl. Röm 8, 18-30). Ist es ein Fluch, dem wir zu entkommen suchen, oder ein Segen, der das Leben auf der Erde in all seiner Vielfalt und unmittelbaren Schönheit erst möglich macht? Diese Fragen berühren nicht nur die wissenschaftlichen und politischen Diskurse unserer Zeit, sondern fordern auch zu philosophischen Überlegungen heraus.

Dass alles Leben auf unserem Planeten vergänglich ist, möchte mir als eine Realität erscheinen, die einerseits schmerzliche Gewissheit, andererseits auch beruhigend sein kann. Denn in der Endlichkeit liegt ein tieferer Sinn: Sie sichert nicht weniger als das langfristige Überleben, die Kontinuität des Lebens insgesamt auf der Erde.

In der Sterblichkeit liegt der Schlüssel zur Erneuerung

Ich behaupte: Die Natur, oder Gaia, wie das Lebensnetzwerk der Erde manchmal poetisch genannt wird, hat aus der Endlichkeit des Lebens heraus eine Überlebensstrategie entwickelt. Mir gefällt das Bild von Gaia als Biosphäre des Planeten, als ein komplexes System von Wechselwirkungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt, und zwar ohne die spirituelle Verklärung, die von bestimmten Kreisen damit getrieben wird. Denn Gaia hat vermutlich kein eigenes Bewusstsein. Gaia also „nutzt” die Sterblichkeit als ein Mittel zur beständigen Erneuerung. Ohne die biologische Begrenzung der Lebenszeit würde es keine Evolution geben, keine Anpassung des Lebens an sich verändernde Umweltbedingungen, keine Entwicklung von Vielfalt. Warum?

Weil wir als biologische Lebewesen beständig verschiedenen lebensfeindlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt sind (z.B. toxische Substanzen, UV-Strahlung, Radioaktivität) ist unser Organismus praktisch permanent damit beschäftigt, Schäden zu reparieren. Man schätzt, dass jede einzelne der -zig Billionen Zellen, aus denen unser Körper besteht, etwa 2.000 bis 4.000 Reparaturvorgänge pro Stunde (sic!) ausführt. Diesen natürlichen Reparaturprozessen verdanken wir, dass wir weitgehend gesund bleiben. Und nicht nur diesen: Je nach Zelltyp und Gewebe erneuern sich Körperzellen durch Zellteilung etwa alle 3 bis 4 Tage (wie z.B. in der Darmschleimhaut, die permanenten Umweltreizen ausgesetzt ist) oder alle 120 Tage (wie bei den roten Blutkörperchen). Bestimmte Zellen können sogar Jahre oder Jahrzehnte überdauern, wie die Nervenzellen. Auf der zellulären Ebene herrscht also bereits ein fortwährendes Kommen und Gehen. Ohne diese Mechanismen wären die meisten komplexen Organismen innerhalb weniger Monate nach der Geburt tot. Doch auch die Reparaturkapazitäten der Zellen und ihre Fähigkeit sich zu teilen sind, wer hätte es gedacht, endlich, weswegen wir unweigerlich irgendwann sterben müssen.

Let’s talk about sex

Und hier kommt die Fortpflanzung ins Spiel: Der geniale Trick der Natur, durch den das Leben fortlaufend verjüngt wird. Fortpflanzung, Mutation und Selektion – das Prinzip des „Survival of the Fittest” – ermöglicht es Organismen sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Diese Prozesse sichern den Fortbestand und die Weiterentwicklung biologischen Lebens über Millionen Jahre hinweg. Neue Generationen treten an die Stelle der alten, ausgestattet mit genetischen Variationen, die besser an die veränderten Umweltbedingungen angepasst sind.

Soweit, so gut. „Doch was ist mit der Seele? Lebt diese nicht ewig?”, könnte jemand einwenden. „Ja, das könnte sein”, würde ich erwidern, „jedoch wirklich wissen können wir es nicht.” Da sind wir bei Glaubensfragen, die ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen möchte. Nur soviel: Ich halte es durchaus für plausibel anzunehmen, dass das Leben immer weiter geht. Jedoch nach dem oben Gesagten nicht auf der individuellen, sondern auf der „nächsthöheren” Ebene. Gaia „findet” wahrscheinlich immer Wege – jedenfalls, solange die Sonne scheint. Und so gehen wir als Organismen am Ende unserer Tage auf in etwas Größerem, womit wir zurückkehren in den ewigen Kreislauf des Lebens. Und die Seele, nunja … aus der „Sicht” von Gaia ziemlich unwichtig, fürchte ich.

Bild: Christian Schmitt via Dall-E 3

Das Leben findet hier und heute statt

Armer Mensch, welch tiefe Kränkung bedeutet doch der Umstand deiner eigenen Endlichkeit für dich. Gerade du, als wahrscheinlich einzige Lebensform auf diesem Planeten, die über das Leben staunen und reflektieren kann, bist selbst den Naturgesetzen unterworfen. Dein Wunsch nach Unsterblichkeit ist mir durchaus nachvollziehbar. Und doch scheint sie mir auch ein Zeichen einer gewissen Unreife zu sein. Denn die Idee und der Wunsch ewig zu leben, ignoriert die fundamentalen biologischen und ökologischen Prinzipien, die das Leben auf der Erde so erfolgreich gemacht haben. Außerdem: Wie soll das denn werden auf der Erde, wenn plötzlich alle Menschen hunderte von Jahren leben wollen? Wir sind ja jetzt schon, ohne schulmedizinische Verjüngungskuren, 8 Milliarden, schlagen uns gegenseitig die Köpfe ein und bringen Gaia an ihre Grenzen.

Ich hätte eine andere Strategie anzubieten: Die Endlichkeit des Lebens gemahnt uns, unserer Existenz im Hier und Jetzt Bedeutung zu geben. Sie fordert uns heraus, das Beste aus unserer begrenzten Zeit zu machen, sie zu schätzen und sie sinnvoll zu nutzen. Statt gegen die Unvermeidlichkeit unserer Endlichkeit zu kämpfen, sollten wir lernen, uns mit den großen Gesetzmäßigkeiten des Lebens zu arrangieren. Diese lehren uns, dass das Leben ein ständiger Prozess von Geburt, Wachstum, Fortpflanzung und Tod ist. Indem wir diese Realität akzeptieren, können wir eine echte Wertschätzung für das Leben entwickeln. Wir können die Schönheit des Augenblicks erkennen und die Bedeutung von Beziehungen, Erfahrungen und Wachstum in den Mittelpunkt unseres Lebens stellen.