Impfskepsis

Ich bin tendenziell ein Befürworter von Impfungen, soviel schonmal vorweg. Ich möchte mich an dieser Stelle aber nicht über Mitmenschen auslassen, die das mit dem Impfen anders sehen. Vielmehr möchte ich einen Gedanken festhalten, der mir zu der Frage nach dem „Warum?“ für andere Sichtweisen und Entscheidungen kam.

Ein ehemaliger Chef von mir lebte das Motto „Bauch schlägt Kopf“ mit seiner Werbeagentur sehr erfolgreich. Es war sogar der Slogan, das Motto seines Unternehmens. Gerade in der Werbung macht man sich zunutze, dass Menschen viel lieber auf ihren Bauch hören, als auf ihren Kopf. Unternehmen bauen seit Jahrzehnten auf die Macht der Emotionen, indem sie diese über Werbung gezielt hervorrufen bzw. steuern und damit Konsumenten-Entscheidungen beeinflussen. Man denke beispielsweise an eine der erfolgreichsten Werbekampagnen aller Zeiten, den „Marlboro Man“, der im „Marlboro Country“ ein Leben in der Natur führt, mit Pferden, Lagerfeuer-Romantik und ursprünglicher Männlichkeit. Selbstverständlich nicht gezeigt wurden in diesen Werbespots die bedauernswerten Kreaturen, die dem Ruf „Come to where the flavour is“ zu oft folgten und später als Lungenkrebs-Patienten auf Palliativstationen dem nahenden Ende ihres Lebens entgegensahen.

Wissenschaftler wollen sogar herausgefunden haben, dass Bauchentscheidungen empirisch betrachtet meistens die richtigen sind, vor allem bei komplexen Entscheidungen: http://wirtschaftspsychologie-aktuell.com/magazin/bauch-schlaegt-kopf-bei-komplexen-entscheidungen/113/ Die Studien, auf die sich die Autoren dieses Artikels beziehen, habe ich mir nicht näher angeschaut, daher kann ich ihre Wissenschaftlichkeit nicht beurteilen. Jedoch scheint mir grundsätzlich einiges dran zu sein an dieser These.

Nun gibt es ein menschliches Phänomen, das z.B. der Psychologie-Professor Dr. Jürgen Gigerenzer beklagt. Gigerenzer hat sich übrigens ebenfalls mit dem Thema Bauchentscheidungen befasst und kommt zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen wie mein ehemaliger Chef. Er hat darüber sogar populärwissenschaftliche Literatur verfasst. Gigerenzer betont jedoch an anderer Stelle auch die Wichtigkeit des Denkens. So weist er in einigen seiner Publikationen darauf hin, dass die Menschen in der Schule noch immer nicht befähigt werden, Unsicherheiten und Risiken angemessen zu beurteilen. Zum Beispiel sagt er in diesem Vortrag: „Ein zentraler Teil von Wissen ist das Verständnis von Evidenz von Fakten und die Fähigkeit zum statistischen Denken. Statistisches Denken war einmal eine Revolution, nämlich der Ausgang des Menschen aus der Illusion der Gewissheit […]“

Eine der wenigen sicheren Gewissheiten des Menschen ist der Tod. Dieser kann verschiedene Ursachen haben. Man sagt zum Beispiel, jemand starb „eines natürlichen Todes“ und meint damit die sich zwangsläufig ergebende Implikation der biologischen Alterungsprozesse. Wenn ein Mensch nicht eines natürlichen Todes stirbt, so gibt es meistens ein einschneidendes Ereignis in seinem Leben, welches ursächlich für seinen Tod ist. So ist beispielsweise der Tod durch einen Verkehrsunfall denkbar.

Laut dieser Grafik: https://www.flüge.de/wp-content/uploads/sites/10/todesfaelle-pro-1-milliarde-reisekilometer.jpg ist es mit Abstand am gefährlichsten, sich auf ein Zweirad zu setzen, gefolgt vom Automobil. Da sich diese Statistik auf die Bezugsgröße „pro eine Milliarde Kilometer“ bezieht, muss man bei der Bewertung des persönlichen Risikos berücksichtigen, wieviele Kilometer man mit dem jeweiligen Verkehrsmittel tatsächlich zurücklegt. Beispielsweise beabsichtigt eine Person von Berlin nach Madrid zu reisen. Angenommen, sie macht ihre Entscheidung maßgeblich vom Risiko abhängig, auf der Reise zu verunglücken. Welches Verkehrsmittel würden wir ihr raten? Mit dem Auto beträgt die Entfernung rund 2.400 Kilometer. Mit dem Fahrrad sind es 2.100 Kilometer und per Direktflug können wir die Luftlinie annehmen: 1.870 Kilometer. Legen wir die Zahlen der oben verlinkten Grafik zugrunde, können wir das Risiko für die einzelnen Verkehrsmittel per einfachem Dreisatz ermitteln. Für das Auto beträgt es 2.400 / 1.000.000.000 * 2,9 = 0,00000696, das entspricht 0,000696 Prozent. Das heißt, ich muss diese Strecke 1.436 Mal mit dem Auto zurücklegen, um statistisch* dabei einmal zu verunglücken. Jetzt das Flugzeug: 1.870 / 1.000.000.000 * 0,003 = 0,00000000561 oder 0,000000561 Prozent. Um mit dem Flugzeug statistisch* einmal zu verunglücken, müsste ich 1.782.531 Mal von Berlin nach Madrid fliegen.

*) Achtung: Die statistische Wahrscheinlichkeit sagt nichts darüber aus, wann ein Ereignis eintritt. Dieses kann bei der ersten Reise eintreten oder auch erst bei der letzten (oder gar nicht bei 1.436 Autoreisen, sondern erst bei der 1.437sten). So gut wie sicher ist jeweils nur, dass es (irgendwann) eintritt.

Jetzt möchte ich es noch für das Fahrrad durchrechnen: 2.100 / 1.000.000.000 * 30 = 0,000063 oder 0,0063 Prozent. Mit dem Fahrrad müsste die Person also 159 Mal von Berlin nach Madrid fahren, um wahrscheinlich zu verunglücken. Mit dem Motorrad ist es mit Abstand am gefährlichsten: Hier reichen schon 80 Reisen von Berlin nach Madrid, um wahrscheinlich zu verunglücken.

Die meisten Menschen dürften bei der Wahl ihres Reisemittels nicht zuallererst nach dessen Risiko, sondern eher nach der Reisezeit, der Bequemlichkeit und den Kosten entscheiden. Weswegen die allermeisten in diesem Beispiel sich vermutlich für das Flugzeug entscheiden würden. Aber auch unter dem Aspekt des Risikos würden wir es empfehlen, wie die oben dargelegten einfachen Berechnungen mit Grundschul-Mathematik gezeigt haben. Wieso möchten manche Menschen dennoch nicht fliegen, obwohl es bequemer, schneller und sicherer ist als alle anderen Reisearten, den Umweltaspekt hier einmal beiseite gelassen? Der Grund ist auch in dem eingangs erwähnten Satz „Bauch schlägt Kopf“ zu suchen. Weil sie das Risiko nicht angemessen beurteilen können und sich z.B. nicht die Mühe machen sich mit statistischen Daten zu befassen und daraus logische Schlüsse zu ziehen, hören sie lieber auf ihren Bauch.

Und damit bin ich beim Thema Impfskepsis. Die statistischen Daten zu Corona liegen inzwischen vor. Sie sind populärwissenschaftlich z.B. hier zusammengefasst: https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/wie-viele-menschen-sterben-an-corona/

Die Wahrscheinlichkeit bei einer Infektion mit Covid-19 an schwerwiegenden Komplikationen zu sterben beträgt für eine Person zwischen 40 und 49 Jahren etwa 0,1 Prozent. Das heißt, eine von 1.000 Personen zwischen 40 und 49 Jahren, die sich mit Covid-19 infizieren, stirbt daran. In der Alterskohorte 50 bis 59 sind es schon 5 von 1.000 und bei 60 bis 69jährigen sterben mehr als zwei von 100 Personen, die sich mit Corona angesteckt haben. Das Risiko für einen schwerwiegenden Krankheitsverlauf (mit oder ohne Todesfolge) infolge einer Infektion mit dem Virus beträgt im Gesamtdurchschnitt 10 Prozent. Eine von 10 Personen wird mit erheblichen Nebenwirkungen der Virusbelastung konfrontiert sein! (Quelle: https://www.zusammengegencorona.de/impfen/aufklaerung-zum-impftermin/die-corona-schutzimpfung-nutzen-und-risiken-richtig-abwaegen/)

Im Vergleich dazu ist das sog. „Impfrisiko“ (also mögliche Komplikationen in Folge der Impfung gegen Covid-19 zu erleiden) ungleich geringer: Es beträgt 0,02 Prozent. Zwei von 10.000 Impflingen haben mit Komplikationen zu kämpfen, wie zum Beispiel Hirnvenen-Thrombosen oder Herzmuskelentzündung.

Jetzt komme ich zu dem Fehlschluss, dem einige Menschen leider unterliegen. Vermutlich aus dem Bauch heraus entscheiden sich einige in Anbetracht des Impfrisikos gegen das Impfen. Was viele bei ihrer Risiko-Abwägung jedoch völlig außer Acht lassen, ist die Tatsache, dass das Corona-Virus sie, über kurz oder lang, mit einer Sicherheit von nahezu 100 Prozent angreifen wird. Mit dieser „Sicherheit“ leben alle Menschen, ob geimpft oder ungeimpft. Der Virologe Christian Drosten hat das im Zeit-Interview vom 10.11.2021 noch einmal eindrucksvoll deutlich gemacht. Entscheidend ist, wie gut unser Körper, unser Immunsystem auf diesen Angriff vorbereitet ist. Hierzu leistet die Impfung einen wesentlichen Beitrag.

Wenn sich also jemand gegen die Impfung entscheidet (mögliche gesundheitliche Gründe außen vor gelassen), ist das vergleichbar mit der Entscheidung für das Motorrad als Reisemittel von Berlin nach Madrid. „Bauch schlägt Kopf“ oder „No risk, no fun“ oder „Sterben musst du sowieso, schneller geht’s mit Marlboro“.

Mit der Freiheit des Individuums sich gegen eine Impfung zu entscheiden habe ich überhaupt keine Probleme. Daher lehne ich einen allgemeinen Impfzwang entschieden ab. Probleme habe ich allerdings damit, dass ich über Steuern und Versicherungsbeiträge gezwungen werde, die Krankheitskosten ungeimpfter Personen mitzutragen. Ich finde, alle Menschen müssen durch ein verpflichtendes Gespräch über die oben dargelegte Risikoabwägung aufgeklärt werden. Sollten sie sich gegen eine Impfung entscheiden, ist das zu respektieren. Allerdings müssen sie dafür unterschreiben, dass sie im Falle einer Erkrankung mit Covid-19 und schwerwiegenden Komplikationen für ihre (teils erheblichen) Behandlungskosten selbst aufkommen.