Steine, Steine und nochmals Steine. Schöne Steine. Auf einer einwöchigen Hüttenwanderung in den Osttiroler Alpen Mitte September 2015 kam ich mit meinem Bergfreund an einer Stelle vorbei, die uns beide mit ihrer außergewöhnlichen Vielfalt schöner Steine erfreute. Auf mehr als 2500 Meter Höhe, am Übergang zwischen Virgental und Defreggental, ganz in der Nähe der Neuen Reichenberger Hütte, konnten wir uns gar nicht satt sehen an dem bunten Reichtum, den hier ein mutmaßliches Aufeinandertreffen verschiedener geologischer Formationen hervorbrachte.
An jener Stelle begann an dem Tag auch unsere mehrstündige Passage hinab ins Virgental, um vom Lasörling-Höhenweg hinüber zum Venediger-Höhenweg zu gelangen. Wenn man mehrere Tage miteinander durch solch einsame Gefilde wandert, wie man sie im Spätherbst auch in den Alpen noch erleben kann, streifen die Gespräche mitunter tiefere Regionen der menschlichen Seele, was ich, den richtigen Gesprächspartner vorausgesetzt, durchaus genießen kann.
Unsere Unterhaltung drehte sich an diesem Vormittag um Kontaktfähigkeit, bzw. das Eintreten für die eigenen Bedürfnisse. Im Laufe des Gesprächs stellte ich für mich fest, dass es mir eigentlich zu selten gelingt, meine Bedürfnisse gegenüber Dritten selbstbewusst zu äußern. Ja, ich habe oft Schwierigkeiten damit, für mich selber einzustehen, das sah ich im Verlaufe unserer Unterhaltung immer klarer. Ein verbindlicheres Auftreten, das würde ich mir (und damit meinen Mitmenschen) manchmal wünschen. „Commitment“, wie es im Englischen heißt, oder „Klare Kante“, wie man bei uns so schön sagt.
Unsere Wanderung führte uns auf einem schmalen Pfad, der sich oberhalb eines engen Kars entlangschlängelte. Unter uns rauschte das Wasser den Umbalfällen entgegen, was an manchen Stellen auch geräuschlos geschah, nämlich dann, wenn der reißende Wildbach sich in Tunneln tief durch die hier noch immer meterdicken Schneereste des letzten Winters fräste.
Im Tal angelangt hatten wir den Gebirgsbach zu überqueren, was dort relativ mühelos gelang, dank der Flachheit des Geländes und eines Steges, der uns sicher und trockenen Fußes auf die andere Talseite führte. Doch vorher legten wir eine kleine Pause ein, die Stelle erschien uns dafür wie gemacht. Auch hier durften wir über die Vielfalt der Steine staunen, die vom Wasser über viele Jahre ins Tal gespült worden waren. An dieser Stelle durften sie, wie wir, eine Zwischenstation einlegen. Mir fiel auf, dass die Steine hier noch schöner waren als oben auf dem Berg. Auf dem Weg ins Tal hatten sie ihre einstigen Ecken und Kanten verloren und ihre Oberfläche war durch die Kraft des Wassers glatt und glänzend geschliffen worden. Einige besonders schöne Exemplare nahm ich in die Hand. Sie fühlten sich rund und geschmeidig an, ihre Schönheit kam durch den natürlichen Schliff erst richtig zur Geltung – ich erfreute mich ihres Anblicks.
In dieser Stimmung kam mir ein schöner Gedanke: der Weg den die Steine zurückgelegt hatten, kann als Metapher stehen für den Lebensweg eines Menschen. Als Jugendlicher hat er Ecken und Kanten, „… er muss sich die Hörner erst noch abstoßen“, wie es heißt. Das Leben gleicht dem Wildbach, der Strom der Zeit entspricht dem Weg, den der Stein ins Tal zurücklegt. Freudig überrascht teilte ich diese frische Erkenntnis meinem Wanderfreund mit, worauf dieser trocken erwiderte: „Ja, oder alles geht den Bach hinunter.“ Ein herzliches Lachen über das Aufeinandertreffen zweier Sichtweisen vereinte uns.
Es war mein 44. Geburtstag.
Die beiden Sichtweisen lassen sich in Wirklichkeit nicht trennen. Ich glaube, das Leben hinterlässt Spuren, man verliert so manche harte Kante und zerbricht womöglich auch an der einen oder anderen Stelle. Aber die Schönheit des eigenen Wesens kommt so erst ans Tageslicht und kann sich entfalten. Der Satz „Alles geht den Bach hinunter.“ ist für mich auch ein Ausdruck für den Schmerz, der damit verbunden ist. Abschied, Schmerz, Trauer gehören zum Leben dazu. Viel zu lange hielt ich diese Aspekte für unerwünscht, wollte sie, wo es ging, vermeiden, aus meinem Leben fern halten. Nun weiß ich, dass ich sie annehmen darf. So wünsche ich mir – für mich – ab jetzt mehr Mut zu „Klarer Kante“.